Was wir kritisieren: Die neue Unwirtlichkeit unserer Städte
In der Tradition einer kritischen Stadtforschung, wie sie beispielhaft von Jane Jacobs oder Lucius Burckhardt betrieben worden ist, fragen wir nach den Bedingungen für das Scheitern der gegenwärtigen Stadtplanung – von architektonischen Details über die Gestaltung des öffentlichen Raums, von den sozialen Fragen nach urbaner Teilhabe bis hin zur Stadtpolitik und den öffentlichen Debatten über die Stadt. Schwerpunkte bilden dabei die Themenbereiche Architektur, Städtebau, Öffentlicher Raum, Verkehr und Stadtpolitik.
ARCHITEKTUR
Fixierung auf einzelne Bauwerke statt Einbindung in Stadträume
Architekt:innen entwerfen und planen noch immer primär Einzelarchitekturen ohne Bezug zum städtischen Kontext. Das Leitbild dieser Architekturen ist der frei im Raum stehende Solitär, der aber selbst keinen Raum bilden kann. Beim Spaziergang durch die Neubauviertel unserer Zeit offenbart sich die Indifferenz der Architektur gegenüber dem Stadtraum – eigentlich gegenüber jeder Idee von Stadt – in zahlreichen Details: Erdgeschosswohnungen werden ohne Hochparterre direkt auf Straßenniveau geplant, was die Bewohner:innen ihrer Privatheit beraubt; übergroße Balkone zerstören raumbildende Fassaden; undifferenzierte Rasterfassaden strahlen Langeweile und Monotonie aus. Die Reaktion darauf sind Bewohner:innen, die sich mit geschlossenen Rollläden und Paravents vom öffentlichen Raum abschotten, und Passant:innen, die diese Räume meiden.
STÄDTEBAU
Stadtauflösung durch formalistische Planung
Ob im Europaviertel, am Riedberg, in der City West oder im Rebstockpark: Der Städtebau unserer Zeit ist erschreckend formalistisch. Entworfen werden nicht Stadträume, sondern nach wie vor monofunktionale Siedlungsgebiete. Die Ideen der funktionalistischen Stadtplanung – in Theorie und Rhetorik der verantwortlichen Planer:innen scheinbar längst überwunden – bestehen hier fort. Ganz gleich, ob die Bebauungsdichte hoch oder niedrig ist, die Siedlungsstruktur auf typologischer Ebene homogen oder heterogen, der Städtebau erschöpft sich letztlich in der funktionalen Zuweisung von Flächen und bewegt sich ideell im endlosen Kontinuum stadtauflösenden Planens und Bauens – zwischen vermeintlicher Gartenstadtidylle und dem Größenwahn der »Ville Radieuse«.
VERKEHR
Fortsetzung der autogerechten Stadtplanung
Dem Städtebau vergleichbar zeigt sich auch in der Verkehrsplanung eine erstaunliche Diskrepanz zwischen proklamiertem Leitbild und realem planerischen Handeln. Als Paradigma dient seit vielen Jahren die »Stadt der kurzen Wege«, wonach der Anteil des Autoverkehrs reduziert und Wohnen, Einkaufen und Arbeiten fußläufig gemischt werden sollen. Die Realität zeigt jedoch ein anderes Bild: Jahr für Jahr werden neue Schnellverkehrsstraßen, Autobahnzubringer und entsprechende Unterführungen errichtet. Kaum ein Gebäude, kaum eine Wohnanlage wird heute ohne eigene Tiefgarage geplant. So werden die Planungsfehler der Nachkriegszeit ohne Not wiederholt – von der Trassenbildung über die überdimensionierten Garageneinfahrten bis hin zu den Tunnelrampen.
ÖFFENTLICHER RAUM
Verlust der Öffentlichkeit durch die Logik der Privatisierung
Ein Spaziergang durch die Neubauviertel in Frankfurt, Stuttgart und Berlin zeigt, dass die Gestaltung und Konzeption des öffentlichen Raums in unserer Zeit auf einen Tiefpunkt zusteuern. Sofern überhaupt ein architektonisch gefasster Stadtraum existiert, wird dieser mit abweisenden Fassaden und dysfunktionalem Stadtmobiliar lieblos gestaltet. Wohnhäuser werden zunehmend von innen gedacht und unerwünschte Funktionen in den Außenraum verlagert – seien es Mülltonnenplätze, Einfahrten, Löschwasservorrichtungen oder Klingelanlagen. Das gestörte Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Sphäre, welches sich vom Siedlungsbau über Einkaufszentren bis hin zu zahlreichen architektonischen Details zeigt, führt letztlich zum Absterben des städtischen Lebens. Auf die weithin geäußerte Kritik an der Unwirtlichkeit unserer Städte wird zumeist hilflos mit Events und kurzfristigen Zwischennutzungen reagiert, wodurch sich die Krise dieser Räume weiter vertieft.
STADTPOLITIK
Rückzug aus der Stadtgestaltung und Fokussierung auf Einzelprojekte
Der Stadtpolitik kommt bei der Gestaltung und Weiterentwicklung städtischer Räume eine entscheidende Bedeutung zu. Ob großflächige Stadtentwicklung oder Stadtumbau, ob Platzgestaltung oder Straßenbau – keine dieser Maßnahmen wird ohne politischen Beschluss umgesetzt. Vor diesem Hintergrund erstaunt der Rückzug der Politik aus der Stadtgestaltung, wo die Probleme zunehmend durch Markt und Wettbewerb sowie die individuelle Aushandlung zwischen Kommune und Investor gelöst werden. Die Fokussierung liegt entweder auf prominenten Einzelprojekten wie der Rekonstruktion der Altstadt oder einer rein quantitativ verstandenen Schaffung von neuem Wohnraum, doch weder die soziale Frage noch die stadträumliche Gestaltung werden dabei umfassend reflektiert. Wie sich die Stadt im Ganzen und in Zukunft entwickeln soll, bleibt offen.