Stadt und Kommerz: Die beklebte Straßenbahn
Die Straßenbahn hat sich seit ihrer Einführung im späten 19. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil des städtischen Lebens entwickelt. Tram und U-Bahn waren jedoch nie nur Verkehrsmittel, sondern immer auch Teil des städtischen Mobiliars, ein Ausdruck stadtspezifischer Formgebung und zeitlich gebundener Gestaltungsepochen. Die charakteristischen Wagons der Straßenbahnen in Lissabon und San Francisco, die Jugendstil-Ornamente der Pariser Metro-Stationen, die roten Routemaster in London und auch das Gelb der Berliner U-Bahn schaffen bis heute Momente der Identifikation und Wiedererkennung. Der gelbe Fuhrpark der BVG gilt mittlerweile als „fahrendes Wahrzeichen“. Gerade für das Berliner Beispiel wird jedoch oft vergessen, dass das mittlerweile ikonische „Sonnengelb“, genauer das RAL Verkehrsgelb, Norm-Bezeichnung 1023, in diesem Jahr sein erst 30-jähriges Bestehen feiert. Weder war es immer schon da, noch hat es sich naturwüchsig auf die Bahnen appliziert. Vielmehr sind Sonnengelb und Typografie (FF Transit) der Feder von keinem geringeren als Erik Spiekermann entsprungen und Ausdruck eines bis in den Netzplan („BVG-Spinne“) so stringent durchdachten wie erfolgreichen Designkonzepts.
Es ist erstaunlich, wie entfernt ein solcher gestalterischer Gesamtplan beim Blick auf die mit Werbung vollverklebten Straßenbahnen Frankfurts erscheint. Doch auch diese bewegte Werbeform schaut auf eine lange Geschichte – und eine ebenso lange Debatte um deren Auswirkungen auf den Stadtraum – zurück. Ursprünglich als reines Fortbewegungsmittel konzipiert, entdeckten Unternehmen bald das Potenzial als mobile Werbeflächen. Bereits um die Jahrhundertwende begannen erste lokale Geschäfte, ihre Produkte auf kleinen Schildern an Straßenbahnen zu bewerben. In den 1920er Jahren beschließt dann u.a. Dresden „die Straßenbahn-Reklame zu reformieren und die sogenannte Vollwagenreklame einzuführen. Es wird also der gesamte Wagen in den Dienst einer Firma gestellt.[1] Unterstützt durch Fortschritte in der Druck- und Folientechnik, wird die sogenannte Ganzreklame, Vollwerbung oder – noch besser – Totalreklame immer größer und auffälliger. Das verdeutlicht auch ein Blick auf die heutige Ausgestaltung der Vollreklame im Vergleich zu ihren Anfängen.[2] Scheint zu Beginn noch eine moderate, sich auch gegenüber Farbe und Formgebung der Straßenbahn zurücknehmende Gestaltung zu überwiegen, so fallen heute eine vor allem eine aufmerksamkeitsheischende Farbgebung und die teils bis über die Fenster reichende Verklebung der Straßenbahnen auf, die deren ursprüngliches Gesicht komplett überdecken. Hier ertrinkt letztlich ein potentiell Identifikation schaffendes, möglicherweise ikonisches Design eines Verkehrsmittels in der Kommodifizierung seiner Außenhaut.
Diese Auswirkungen allein wären beachtenswert genug, doch gehen mit dieser Kommerzialisierung zugleich städtebauliche bzw. stadtgesellschaftliche Effekte einher. Was also bedeutet diese Kommodifizierung für die Städte, ihre Bewohner:innen und den öffentlichen Raum?
Eigentlich bringt es schon Karl Fleischhacks Passus zur Vollwagenreklame von 1925 auf den Punkt: „Der harmlose Straßenbahnpassant kann nicht entrinnen. Ob er beim Einsteigen begriffen ist, ob er auf dem Vorderperron oder Hinterperron steht, ob er vom Sitz aus seine Blicke ausweichend nach oben oder unten schweifen lässt, sein Bewusstsein wird immer von der einen bestimmten Reklame gefangenen genommen. Ein Entrinnen gibt es einfach nicht…“.[3] Ebenso ließe sich der aktuelle Teaser der Firma – der Name verspricht viel – Gigantmedien heranziehen, der „Verkehrsmedien“ als „fahrende Eye-Catcher“ anpreist und entsprechende Angebote offeriert, die eine „Sichtbarkeitsgarantie unabhängig von Standort und Entfernung“ versprechen.[4] Die Reichweite ist enorm: Im Jahr 2023 beförderten die Straßenbahnen der VGF rund 66.918 Mio. Fahrgäste [5], dazu kommen Verkehrsteilnehmer:innen und Passant:innen. Was sich für werbeinteressierte Unternehmen verheißungsvoll anhört, klingt für den öffentlichen Raum wie eine Bedrohung. Aber warum eigentlich?
In der Stadtplanung, Soziologie und durch Bürger:innenbewegungen wird der kommerzielle Druck auf den öffentlichen Raum zunehmend hinterfragt. Dahinter liegt die für Stadt, Gesellschaft und Demokratie gleichermaßen fundamentale Frage nach den Grenzen der Privatisierung öffentlicher Güter. Welche Teile der öffentlichen Infrastruktur sollten eigentlich vor einer marktwirtschaftlichen „Kolonialisierung“ (Habermas) geschützt werden, weil ihre Kommerzialisierung mit dysfunktionalen Effekten verbunden ist?[6] Sind die Zugangs- und Nutzungsbeschränkungen öffentlicher Räume durch ihre privatwirtschaftliche Vereinnahmung und Einhausung (Malls, Events etc.) noch offensichtlich, so ist der dysfunktionale Einfluss permanenter Werbung auf und in öffentlichen Gütern und Gebäuden schwerer zu fassen. Er vermittelt sich eher durch die Wahrnehmung ebendieser Güter und Gebäude.
Das gilt auf zweierlei Weise: Zum einen perforieren die kommerziellen Botschaften die Außenwahrnehmung der eigentlich für andere Zwecke gebauten und gestalteten öffentlichen Güter.[7] Sie werden überdeckt, überklebt und übertüncht, aber auch fragmentiert und zergliedert durch die Farbenpracht und Vielgestaltigkeit des Kommerzes. Der Frankfurter Hauptbahnhof gibt ein anschauliches Beispiel davon, wie Natursteinfassaden hinter Plastikbannern verschwinden und die Gesamtgestaltung hinter einem Wirrwarr aus optischen Ausrufezeichen versinkt (Beitrag folgt). Es ist letztlich unmöglich, dem zu „entrinnen“ und zugleich den Bahnhof noch in seiner originären Gestalt wahrzunehmen – dasselbe gilt für jene vollverklebten Straßenbahnen.
Damit verbindet sich ein weiterer Punkt, der noch gewichtiger erscheint: Die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes ist zugleich Ausdruck einer Gesellschaft, die es sich nicht mehr leisten will (oder kann), öffentliche Gebäude und Güter grundsätzlich von einem marktwirtschaftlichen Zugriff freizuhalten. Am Beispiel der Frankfurter Straßenbahn ergibt sich dafür folgende Rechnung: Eine sogenannte „Ganzgestaltung Plus“ (komplette Werbegestaltung der Außenflächen inklusive partielle Nutzung der Scheiben) kostet laut Verkehrsmedien-Planer von Ströer, dem Werbepartner der Stadt Frankfurt, bei einer Laufzeit von 12 Monaten rund 62.000 € (inkl. Produktion und Montage/Demontage).[8] Auch wenn seitens der Stadt oder VGF keine Zahlen zu Werbeeinnahmen offengelegt werden, lässt sich ein schneller Überschlag anstellen: Wenn 50 % der Straßenbahn-Modell „S“ Flotte für 12 Monate gebucht werden, belaufen sich die Einnahmen auf 2,3 Mio. €. Der Preis dafür ist der Verlust von deren Charakter als „common goods“. Die Werbung verdeckt sie als Objekte des Gemeinsamen, als Gegenstände, die allen gehören, und macht damit allein räumlich und gestalterisch eine gemeinsame Identifikation mit diesen schwieriger. Liegt die identifikatorische Kraft ikonischer Verkehrsmittel doch darin, dass sie neben ihrer guten Gestaltung vor allem als Allgemeingut eines städtischen Zusammenhangs gelten, so geht genau dies durch eine auf Dauer gestellte „Totalwerbung“ verloren. Oder anders gesagt: Es fällt eben schwer, sich mit dem dürftigen Gebäck des Bäcker Eiflers zu identifizieren, dass einem die Sicht aus der Straßenbahn versperrt.