Ökonomie der Geisterstadt: Digitale Lieferdienste


Da leuchten sie auf dem Bildschirm, die Pizzas, Bowls und Currys. In ihren Styroporschalen zwar weniger ansprechend als auf den Fotos in der App – was zählt, ist der Komfort, die schnelle Lieferung. Dass sich das Konsumverhalten vieler Menschen verändert hat, Bestell-Apps und Lieferdienste längst zum Alltag gehören und Fahrradkurier:innen durch die Straßen sausen, sind keine Neuigkeiten. Was dabei gerne übersehen wird: So geschmeidig die Online-Bestellungen auch ablaufen mögen, so konkret sind ihre materiellen Spuren. Zeit für eine Bestandsaufnahme in der Stadt. Wie manifestiert sich die digitale Ökonomie der Lieferdienste im urbanen Raum und an welchen Orten tritt sie zum Vorschein?
Die Geisterküche: großer Hype, geringer Erfolg?
Sich Gerichte vom Restaurant oder Imbiss an die Wohnungstür liefern zu lassen, ist ein altbekannter und komfortabler Service. Seit jeher verdienen sich Restaurants einen Teil ihres Umsatzes mit der Anlieferung ihrer Speisen – das jedoch bei Beibehaltung des regulären Gaststättenbetriebs. Genau dieser fällt in sogenannten Geisterküchen (engl. Ghost Kitchens) weg: Sie verzichten auf eingerichtete Gasträume und kostspieliges Servicepersonal. Übrig bleibt eine reine Essensproduktion, die sich auf transporttaugliche Gerichte konzentriert, auf günstigere Flächen ausweichen und in manchen Fällen sogar für mehrere Marken produzieren kann: Ob asiatisch oder italienisch – alles kommt aus einer Küche. Das Menü findet sich auf den Online-Plattformen diverser Anbieter, die auch den digitalen Bezahlvorgang abwickeln, die Kurier:innen koordinieren und dabei weiter dem Gewinn zuträgliche Daten über Essgewohnheiten, Geschmäcker und Mobilität generieren.


Kein Wunder, dass App-basierte Lieferservices bereits vor Corona auf dem US-amerikanischen Markt gehypt wurden und ihre Anbieter Risikokapital einwerben konnten. In Deutschland hingegen verhalfen erst Lockdown und Kontaktsperren entsprechenden Lieferdiensten zum Durchbruch: Das Berliner Unternehmen „Chefly“ (vormals „Vertical Food“) schaffte es als einer der ersten Anbieter in die Medien, als konventionelle Gastronomiebetriebe angesichts des Infektionsgeschehens reihenweise auf Abhol- und Bringdienste umschwenkten. In Kooperation mit dem Weltkonzern Unilever strebte man bis Ende 2024 eine Expansion auf 15 Geisterküchen und 150 virtuelle Restaurants an. Zumindest dieser Hype scheint erst mal abgeklungen – aktuell steht die Domain zum Verkauf. Schon vor Chefly scheiterten namhaftere Anbieter wie Foodora oder Deliveroo auf einem lange Zeit unübersichtlichen Markt, den sich heute Lieferando, Uber Eats und Wolt weitgehend untereinander aufteilen.
Die Unternehmen setzen sowohl auf konventionelle Gastronomiebetriebe als auch auf Geisterküchen. Wie viele solcher reinen Produktionsorte, die teilweise nicht einmal eine Abholmöglichkeit an den Küchen bieten, hierzulande existieren, ist unklar: Branchenberichte frohlocken lieber über hohe Investitionen und ein prognostiziertes Markvolumen von weltweit 71 Milliarden US-Dollar im Jahr 2027.
Wer auf eigene Faust recherchiert, stößt schnell an Grenzen: Während manche Online-Lieferdienste die Angebote immerhin durch den Hinweis „Virtuelles Restaurant“ kennzeichnen, verbergen sich hinter anderen Adressen mal unscheinbare Hinterhöfe, mal eine Hotelküche oder ein tatsächliches Restaurant, das seine Kapazitäten vermietet oder eine neue Marke austestet. Bestellt man beispielsweise in Frankfurt bei zwei virtuellen Restaurants namens „Healthy Bite West“ bzw. „Healthy Bite Bornheim“, startet der Lieferdienst an einem der beiden Standorte eines Streetfood- und Frühstückrestaurants, das seine Gäste unter einem anderen Namen empfängt.
Zudem wird längst an weiteren Hybridkonzepten getüftelt, die unter illustren Bezeichnungen wie „Co-Eating-Space“ Gasträume bereitstellen oder, wie im Falle eines Londoner Bauprojektes, gleich eine ganze Foodhall mit verschiedenen Angeboten bestücken. Es drängt sich der Gedanke auf, dass diese „Hybride“ letztlich alten Wein in neue Schläuche gießen und das wohlbekannte Konzept des Restaurants lediglich eine Re-Inszenierung erfährt. Doch solange weiter Nutzungsdaten fließen, darf offenbar ruhig wieder etwas soziale Wärme in die Geisterschlösser einkehren. Dass von Anfang an echte Menschen am Herd standen oder auf dem Fahrrad strampelten, wird dabei geflissentlich übersehen.
Der Geisterladen: schnell geliefert – teuer bezahlt
Damit ähneln die digital gefütterten Restaurants dem verwandten Phänomen der Geisterläden (engl. Ghost Stores): Warenlager, gefüllt mit nummerierten Regalen, in denen Angestellte im Takt der einlaufenden Bestellungen Tüten packen und diese in bunten Rucksäcken zu den Kund:innen bringen. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt das ehemalige Start-Up Gorillas als Pionier der Sofortlieferdienste, die sich auf das Verteilen von Lebensmitteln und Drogerieartikeln in Bestzeit spezialisierten. So präsent die Geisterläden mit ihren verklebten Schaufenstern, wartenden Fahrer:innen und mit Anlieferungen blockierten Gehwegen waren, so hoch das Liefertempo war – so schnell beendete eine Kombination aus abflauender Nachfrage, stockenden Investitionen und hohen Kosten den Hype.
Ein Beispiel: Um das Versprechen einer schnellen Lieferung auf Nachfrage zu erfüllen, benötigen die Anbieter ein dichtes Netz von verhältnismäßig kleinen Depots – stets im Erdgeschoss und direkt an einer Straße gelegen. In den urbanen Zentren, in denen die auserkorene Kundschaft lebt, schlagen dementsprechend hohe Mietkosten zu Buche. Da reicht es nicht aus, Tore, Türen und Fenster großflächig mit auffälliger Werbung zu überziehen. Denn auch ein auf ständige Verfügbarkeit ausgerichteter, aber nur zu Spitzenzeiten – und dann so richtig – ausgelasteter Personalbestand kostet, und das erst recht, wenn die Kurier:innen ständig zwischen Lager und Kund:in hin- und herhetzen. Liefer- und Lagergebühren auf die Waren aufzuschlagen, macht das Einkaufen per Klick allerdings kaum attraktiver.


Was bleibt, abgesehen von tatsächlichen Geisterläden – und Fahrer:innen, die bald in eine neue bunte Jacke schlüpfen dürften? Gorillas sammelte knapp eine Milliarde Euro an Investorengeldern ein, verbuchte nie Gewinne und wurde schließlich an den türkischen Schnelllieferdienst Getir verkauft, der allerdings im Mai 2024 den Betrieb in Deutschland einstellte. Der Mitbewerber Flink kooperiert hingegen seit 2023 mit einer alten Bekannten, deren Anteile am Lebensmittelhandel die Schnelllieferdienste nie wirklich streitig machen konnten: der REWE-Gruppe.
Denn auch die stationären Supermärkte und Drogerien, die in Deutschland ebenso wie konventionelle Gastronomiebetriebe den Markt wie das Stadtbild dominieren, passen ihr Angebot an das Konsumverhalten der potenziellen Kund:innen an. Wochenendeinkäufe oder Warenkörbe für die ganze Familie lassen sich ebenfalls online bestellen und dann im Markt an entsprechenden Stationen abholen. Die „letzte Meile“ der Lieferung, über deren Kosten Branchenmagazine ächzen, bewältigen die Käufer:innen nun wieder selbst; der Personalaufwand vor Ort beschränkt sich auf das Zusammenstellen der Waren.
In das Liefergeschäft wagt sich der stationäre Handel hingegen in Partnerschaft mit Unternehmen vor, die auf fixe Fahrpläne und KI-optimierte Routen setzen – statt dem ununterbrochenen Hin-und-Her zwischen Warenlager und Zielort. Das muss keine Beschränkung der Kund:innen auf konventionelle Öffnungs- und begrenzte Lieferzeiten bedeuten: Neben den verbliebenen Geisterläden von Flink schießen derzeit automatisierte Selbstbedienungs-Supermärkte und E-Kiosks aus dem Boden. Aus den Automatenschächten purzeln per Terminal ausgewählte und erworbene Waren, während externe Sicherheitsunternehmen per Kamera darauf achten, dass die Verglasung heil und das Sortiment an seinem Platz bleibt.


Die Stadt als Testlabor
Lassen wir den E-Kiosk für einen Moment außen vor, vereint ein Aspekt all die verschiedenen Dienstleistungen: Stets sollen smarte Plattformen – Lieferando, UberEats, Flink und Co. – Angebot und Nachfrage zusammenbringen und wie ein freundlicher Hausgeist im Hintergrund wirken. Der schillernde Begriff der digitalen Plattform bezeichnet Technologie-Unternehmen, die hauptsächlich Verkaufsflächen für andere bereitstellen, ohne selbst umfassend in Arbeit und Produktionsmittel, also die notwendigen Gebäude und Anlagen zu investieren.
Übersehen werden nach diesem Verständnis die nicht nur alles andere als schlanken Investitionen in diese Unternehmen, sondern auch die auf Arbeiter:innen, Staat und Gesellschaft abgewälzten Kosten und Risiken, wie etwa der Politik- und Kulturwissenschaftler Moritz Altenried im Sammelband „Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion“ (2021) feststellt. Das bedeutet: Die mit potenziellen Kund:innen, günstigen Arbeitskräften und fertigen Infrastrukturen gefüllte Stadt gilt den Plattform-Unternehmen vor allem als eine Art natürlich gegebenes Testlabor, in dem sich neue Geschäftsmodelle ausprobieren lassen.
Bezeichnungen wie Geisterladen oder Geisterküche für diese Trends implizieren, dass sich Nudelboxen von unsichtbarer Hand zubereiten, Einkaufstüten wie von selbst packen und beide zur auf 24/7 ausgedehnten Geisterstunde in den vierten Stock eines Wohnhauses schweben. Das Pochen auf der menschlichen Arbeit hinter diesen Vorgängen fordert jedoch mehr als Anerkennung für die Beschäftigten ein. Es erinnert daran, dass auch automatisierte Läden und scheinbar körperlose Apps auf das städtische Geflecht aus Menschen und Dingen angewiesen sind und dass sie konkret darin eingreifen: Die Funktionsküchen „virtueller“ Restaurants verdrängen Aufenthaltsorte, Werbetafeln verdecken offene Schaufenster, Kameras und Terminals ersetzen die Kassierer:innen.

Solche physischen Veränderungen gehen Hand in Hand mit Veränderungen des sozialen Lebens. Elemente wie das blickdichte Fenster und Phänomene wie die automatisierten Läden stehen dabei symptomatisch für eine Verödung des öffentlichen Raums: „Eine lebendige Straße hat sowohl Benutzer als auch Zuschauer“ stellte die Stadtforscherin Jane Jacobs bereits 1963 fest – eine von Marktlogiken geformte Straße befördert hingegen fließbandgleich Waren von der Geisterküche zur Wohnhöhle. Ohne Gewerbetreibende, die einen Blick aus ihren Geschäften werfen, oder Passant:innen, die sich für einen kurzen Moment auf dem Gehweg begegnen, fehlt ein unterschwelliges, aber essenzielles Gefühl sozialer Kontrolle. Kurzum: Die Augen der Stadt werden trüb und ihre Unwirtlichkeit muss nicht weiter überraschen.
Wie wir Essen wollen
Den Zustand des öffentlichen Raumes zu beklagen, erschöpft sich also nicht in einer ästhetischen Kritik: Man mag darüber streiten, ob schreiend bunte Folien der beige-grau-weißen Monotonie vieler Fassaden guttun. Ebenso wenig geht es hier um stumpfe Technologiefeindlichkeit und Konsumkritik: Urbanität lässt sich nicht auf Einkaufen, Essen gehen und nächtliche Snacks am Kiosk reduzieren, aber lebt auch von den damit verbundenen sozialen Interaktionen. Vielmehr geht es darum, eine Ahnung zu gewinnen, wie das Zusammenspiel aus gewandeltem Konsumverhalten, kapitalistischer Logik und Digitalisierung die Stadt und das Leben ihrer Einwohner:innen verändern könnte – und das bereits jetzt tut. Diese Umwälzungen brechen jedoch nicht einfach über uns herein. Wie gerade die Arbeitskämpfe der Lieferdienstfahrer:innen zeigen, die vom Austricksen der Algorithmen über Wilde Streiks bis zum Teilerfolg einer neuen EU-Richtlinie zum Schutz von Arbeitnehmer:innen reichen: Weder laufen die Veränderungen so sauber und glatt ab, wie die Interfaces der Apps und Einkaufs-Terminals suggerieren, noch müssen sie kritiklos hingenommen werden.



























