Essay Zeitdiagnose

Die bemühte Demokratie

Text: Frederik R. HeinzFotos: Benjamin Pfeifer

Die liberale Demokratie steckt in der Krise, so liest man. Und das nicht nur in Deutschland, sondern global. Anfang des Jahres attestierte die Bertelsmann-Stiftung dem ehemals politischen Exportschlager aus dem Westen die schlechteste Lage seit 20 Jahren. Die autokratische Konkurrenz konnte sich, gemessen an der Gesamtzahl existierender Staatensysteme, weltweit an die Spitze setzen. Die verbleibenden liberalen Demokratien werden nicht nur von außen, sondern auch aus dem Inneren von anti-liberalen und populistischen Bewegungen herausgefordert. Die Diagnosen der liberalen Demokratiekrise sind vielfältig und variieren naturgemäß je nach politischer Herkunft der Autoren, die sie stellen. Letztendlich bleibt für alle die Frage: Was tun?

In Frankfurt scheint man der Auffassung zu sein, die Demokratie müsse allen voran wieder erlebbar werden. Bürgerinnen und Bürger sollen spüren, etwas bewegen zu können – wenn schon nicht auf Bundesebene, dann wenigstens innerhalb der beschaulichen Grenzen ihrer Stadt. Nicht nur gewählte Repräsentanten im Römer, auch engagierte Freiwillige wollen die übrige Bevölkerung, die Basis, das Volk demokratisch wachküssen. Die städtischen Grünflächen- und Stadtplanungsämter rufen zur Beteiligung auf – vom Europagarten bis zur Hauptwache gibt es allerlei zu gestalten und zum Mitmachen. Vereine wie der 2017 initiierte „mehr als wählen e. V.“ experimentieren indes mit neuen Beteiligungsformaten, um der Demokratiekrise entgegenzuwirken. Ein radikaldemokratischer Hauch weht durch Frankfurts Straßen – und wir wollen ihm folgen.

Partizipieren statt umsetzen

Wir beginnen unseren Spaziergang an der Hauptwache. Ein unerfreulicher Ort, werden viele Einheimische sagen. Die breite Betonwüste, umzingelt von Nachkriegsbauten und krisengebeutelten Kaufhäusern, gilt vielen als Paradebeispiel fehlgeschlagener Stadtentwicklung. Doch nicht mehr lange! Eine Neugestaltung soll den Platz ganz nach den Vorstellungen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger zu einer innerstädtischen Oase erblühen lassen. Um die Bedürfnisse von Menschen zu erkennen – das hat man mitunter aus der privatwirtschaftlichen Produktentwicklung gelernt –, muss man mit ihnen reden. User Centricity – so lautet in der Unternehmenswelt das oberste Mantra, das längst die moderne Verwaltung für sich entdeckt hat. Mitten auf dem Platz, an einem abgehalfterten Bauzaun, entdecken wir Plakate, die zum Mitmachen einladen. „Hauptwache sehen, hören, fühlen“, so betiteln die Planer ihre Kampagne. Dabei hatte erst 2022 eine Bürgerbeteiligung zur Umgestaltung der Hauptwache stattgefunden.

Die Ergebnisse scheinen in planerischen Schubladen versenkt, und so bleibt nur ein Ergebnis: Statt zu bauen, wird weiter partizipiert. Die Geschichte gescheiterter Bauplanung reicht noch weiter zurück. 2002 beschloss man die Sperrung der Hauptwache für den Autoverkehr, die 2009 in Kraft trat. „Die Stadt hätte also bis zur Umsetzung sieben Jahre Zeit gehabt, um einen städtebaulichen Plan zu entwickeln“, sagt der Frankfurter Architekt Stefan Forster. „Passiert ist alles in allem mehr als zwanzig Jahre lang nichts.“ (Skyline Atlas, 2024) Vor diesem Hintergrund den Bürgerinnen und Bürgern eine weitere Partizipationskampagne als Fortschritt verkaufen zu wollen, ist bestenfalls als Stakeholder-Management zu verstehen, nicht aber als Demokratiemaßnahme. Ein ganzes Jahr lang soll die neue Kampagne andauern. Ein weiteres Jahr, in dem man die Hauptwache sehen, hören und fühlen muss.

Wir verlassen den Ort und gelangen nach wenigen Minuten zur Paulskirche: dem Wahrzeichen deutscher Demokratie, dem Mahnmal der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848, der im westeuropäischen Vergleich verspäteten Revolution, der man bis heute vergeblich versucht, einen aufgeklärten deutschen Gründungsmythos abzuringen. Die Paulskirche war nie nur Symbol deutscher Demokratie, sondern immer auch deutscher Demokratieunfähigkeit. Zeit, die Demokratiekompetenz wieder anzukurbeln. Zum Beispiel mit dem DemokratieWagen, der 2020 auf dem Vorplatz der Paulskirche vorgestellt wurde und seither durch Frankfurts Straßen rollt. Der umfunktionierte Linienbus ist als „mobiler Erfahrungsraum für eine vielfältige und streitlustige Demokratie auf Frankfurts Straßen unterwegs“, so liest man auf seiner Webseite.

Frankfurts simulative Demokratie

Demokratie, das scheint hier als eine Art Improvisationstheater gemeint – weniger Politik, mehr Ästhetik. Als Willy Brandt 1969 mehr Demokratie wagen wollte, dachte man noch an Mitbestimmung und geteilte Verantwortung, an eine Stärkung der Gewerkschaften und sozialer Verbände, an liberalisierende Justizreformen und die Kraft politischer Bewegungen. Im heutigen DemokratieWagen hofft man indes, in missionarischer Absicht die Bevölkerung von ihrer eigenen Mitgestaltungskraft zu überzeugen.

Bürgerdialog oder Kinderbetreuung? Die Ansammlung der locker verteilten Aufsteller mit ihren quietschroten Smileys und den herumliegenden Fußplatten wirkt lieblos und bezuglos zum Platz, dessen Zukunft sie vorgibt gestalten zu wollen.
Bürgerdialog oder Kinderbetreuung? Die Ansammlung der locker verteilten Aufsteller mit ihren quietschroten Smileys und den herumliegenden Fußplatten wirkt lieblos und bezuglos zum Platz, dessen Zukunft sie vorgibt gestalten zu wollen.

Ergänzend organisieren dieselben Initiatoren (der Verein „mehr als wählen“) alle zwei Jahre den Frankfurter Demokratiekonvent. Teils zufällig gewählt, teils auserkoren, entwickeln 55 Bürgerinnen und Bürger in Workshopformaten gemeinsame Projektideen für die Frankfurter Stadtpolitik. Die Ergebnisse werden im Anschluss veröffentlicht, dem Römer überreicht und von der Stadtpolitik umgesetzt. Oder? Wie das Journal Frankfurt berichtet, war man schon nach dem zweiten Konvent von der ausbleibenden Realisierung der Ideen, in die man viel Zeit und Energie gesteckt hatte, enttäuscht. Dies war man vom ersten Konvent 2019 nicht gewohnt, hier hatte sich die Stadt der Projektideen angenommen und unterstützt. Denn was waren dies für Ideen? Sie ahnen es bereits: Mehr Partizipationsformate, wie eben der DemokratieWagen. Mehr Partizipation geht im Zweifel immer, insbesondere wenn diese nicht in verbindlichen Entscheidungen für die Stadtpolitik mündet. Die radikalste Idee des Konvents, nämlich die Einführung direkt-demokratischer und für die Stadt verbindlicher Abstimmungen, blieb selbstredend unbeachtet.

Grenzen der Beteiligung

Man könnte die Liste von Beteiligungsverfahren in Frankfurt noch lange fortsetzen. In Summe erwecken sie den Eindruck, nicht die Demokratie zu stärken, sondern im Gegenteil ein Phänomen zu befeuern, das der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn als „simulative Demokratie“ beschreibt. Gemeint ist damit eine Form der Demokratie, in der demokratische Prozesse einen zunehmend symbolischen Charakter erhalten. Die Partizipation wird einerseits hochgefahren, während die reale Einflussnahme auf Entscheidungen tendenziell sinkt. Blühdorn argumentiert, dass diese Form der Demokratie es ermöglicht, widersprüchliche gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen zu bewältigen, ohne dass es zu grundlegenden Veränderungen kommt. Die Bürgerbeteiligungen erfüllen dann nicht den Zweck, den sie sich gerne selbst zuschreiben: Brücken schlagen, Politik und Bevölkerung verbinden, den Einfluss der Bevölkerung stärken. Stattdessen dienen sie primär der Stadtpolitik, indem sie mehr Legitimation durch vermeintlich mehr demokratische Teilhabe herstellen. Das liegt freilich nicht in der Natur von Bürgerbeteiligungen per se. Ihr demokratischer Mehrgewinn bemisst sich an ihrer strukturellen Integration in die Stadtpolitik und der hergestellten Verbindlichkeit von Entscheidungen.

Stadtpolitik muss kluge Lösungen anbieten und umsetzen. Dazu gehört klarerweise auch die Einbeziehung der Bevölkerung. Wenn Partizipation aber zur bloßen kommunikativen Nebelkerze verkommt, wird Demokratie nicht gestärkt, sondern beschädigt. Im Falle der Hauptwache wäre den Frankfurterinnen und Frankfurtern mehr geholfen, würde die Stadt konkrete Lösungsvorschläge und zuverlässige Planungen vorlegen. Werden Planung und Umsetzung hingegen verschleppt, wäre der Bevölkerung darüber Rechenschaft abzulegen. Politischer Gestaltungswille, kluge Pläne für die Stadtentwicklung sowie Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein: Das wären naheliegende Maßnahmen, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.

Unser Spaziergang endet am Luisenplatz im alteingesessenen Stadtteilcafé Lido. Die sonst so heimische Atmosphäre zwischen Café-Mobiliar und Pflanzenkübeln ist von spürbarer Unruhe gestört. Statt in der nachmittäglichen Plauderei oder der Zeitung haben sich die Gäste in einer tischübergreifenden Diskussion vertieft. Das Lido muss Ende Dezember nach 23 Jahren seine Türen schließen. Die Hausbesitzerin erhöht die Miete um satte 70 %, für die Betreiber der Café-Bar nicht stemmbar. Das Lido ist in etwa das, was in strategisch ausgeklügelten Workshops partizipativer Erlebnisräume erträumt wird, nämlich ein Ort des Zusammenkommens, des Austauschs und der Diskussion. Steigende Mieten und Immobilienspekulationen verunmöglichen zunehmend derlei Räume – ein Problem, das die Frankfurter Politik seit Jahren nicht in den Griff bekommt. Ganz sicher aber würde sie ein Partizipationsformat zur Lösungsfindung begrüßen.

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